MEHR ÜBER DAS NERVENSYSTEM UND DAS LERNEN
Als Menschen treten wir mit einem unfertigen Nervensystem ins Leben. Wir sind in den ersten Lebensjahren vollkommen auf die Fürsorge der Eltern bzw. der Bezugspersonen angewiesen. Während dieser Zeit der völligen Abhängigkeit entwickelt sich unser Nervensystem weiter. Die Nervenbahnen wachsen buchstäblich, im Gehirn vollziehen sich schier unglaubliche Prozesse: einzelne Zentren des Gehirns entwickeln sich weiter, schaffen neue neuronale Verbindungen sowohl zu den Muskeln als auch zu anderen Gehirnzentren.
Dieser für das Kind sehr fordernde Prozess findet nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ statt. Sein Motor ist ausschließlich die Neugierde des Kindes. Die Bewegung spielt eine Schlüsselrolle in diesem Wachstumsprozess. Die Weiterentwicklung des Gehirns und die Bewegung stehen in gegenseitiger Abhängigkeit: Bewegungen liefern dem Gehirn die nötigen Informationen für seine Entwicklung, während das Gehirn die Bewegungen immer präziser steuert.
Wenn sich ein Kind gut entwickelt, baut es spielend, mit Bewegungen experimentierend, die entsprechenden Strukturen im Gehirn aus. Damit geht die kognitive Entwicklung des Kindes einher. Moshé Feldenkrais hat diesen Prozess organisches Lernen genannt.
STÖRUNGEN IN DER ENTWICKLUNG
Bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen (z.B. aufgrund einer Verletzung des zentralen Nervensystems/ Cerebralparese) kommt es häufig zu Störungen in diesem Prozess des organischen Lernens. Einige Handlungen sind unter Umständen für das Kind nicht ausführbar, andere sind nur unter sehr großer Anstrengung möglich, was wiederum zur Überlastung einzelner Strukturen führen kann.
Wenn ein Kind eine bestimmte Handlung oder Bewegung nicht lernt, so fehlen dem Gehirn die nötigen Informationen, um die Handlung zu generieren. Daher ist die ANALYSE der Handlungen, die das Kind spontan macht, von größter Bedeutung.
AKTIVIERUNG DES LERNPROZESSES
Ein grundlegender Aspekt der FELDENKRAIS-Arbeit ist das Wecken der Neugierde für neue Handlungsmodi. Wir arbeiten mit der sanften Berührung, der Verlangsamung und der Variation der Bewegung, mit dem Tempowechsel und überraschenden Modi der Bewegung. Alles mit dem Ziel, dem Kind ein Experimentierfeld zu geben, in dem es Unterschiede immer genauer wahrnimmt: Unterschiede zwischen verschiedenen Kräften, mit denen es auf ein Objekt einwirken muss, um es zu manipulieren, Unterschiede des Drucks, den es auf eine Unterlage ausüben muss, um den eigenen Körper durch den Raum zu bewegen usw.
Wenn es dem Gehirn möglich ist diese Art von Unterschieden zu erkennen, wird es ihm auch möglich, daraus neue Handlungen zu generieren.
Und wenn das Kind die Vorteile einer Bewegung erkennt, schaltet sich der sogenannte Lernschalter ein (ein Begriff von Anat Baniel/“Kids beyond Limits“). Das Kind beginnt eigenständig mit der Bewegung zu experimentieren, erprobt verschiedene Varianten der Bewegung, bis es ein neues Handlungsschema generiert.
Unsere Aufgabe ist daher nicht die Einübung bestimmter Handlungen, sondern die Bereitstellung möglichst vieler Informationen an das Gehirn, damit es die eigene, individuelle Lösung für ein bestimmtes Problem finden kann.
ROLLE DER ELTERN
Heute ist wissenschaftlich erwiesen, was Dr. Feldenkrais bereits in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts postuliert hat: Das Gehirn ist in der Lage eigene Strukturen zu reorganisieren. Es ist von größter Bedeutung für die Entwicklung des Kindes, dass Eltern an diese enorme Fähigkeit ihres Kindes glauben und dass sie die konkreten (neurologischen) Bedürfnisse des Kindes erkennen, so dass sie es im Alltag effektiv unterstützen können.
Eltern, die ein Kind mit gewissen Entwicklungsstörungen haben, möchten natürlich ihrem Kind so viel Hilfe wie möglich zukommen lassen. Für sie wird es unter Umständen nicht leicht sein zu akzeptieren, dass man mit dem Kind keine „fertigen“ Handlungen einübt, auch keine invasiven Korrekturen der Haltung vornimmt, dass man vielmehr dem Kind so viel Zeit gibt wie nötig, bis es eine eigenständige Handlung entwickelt.
Wenn es Ihnen auch so geht, bitte ich Sie, sich zu vergegenwärtigen was es für die Persönlichkeit Ihres Kindes bedeutet, wenn es stets fremde, mit viel Anstrengung (manchmal auch mit Gewalt) eingeübte Handlungsmuster übernehmen muss; wenn es jede Bewegung als kraftraubend erlebt. Und umgekehrt, stellen Sie sich vor welche Freude und Selbstsicherheit entsteht, wenn das Kind Leichtigkeit in der Bewegung erlebt und ein bestimmtes Ziel eigenständig erreicht.
Wenn Sie die hier genannten Prinzipien der FELDENKRAIS-Arbeit anzuwenden beginnen, werden Sie immer genauer die Bedürfnisse Ihres Kindes verstehen, immer präziser bestimmen können, womit das Nervensystem Ihres Kindes gerade beschäftigt ist und welche Informationen es gerade braucht. Sie werden entdecken, dass das Lernen keine anstrengende Angelegenheit ist, sondern Spaß macht. Sie kämpfen nicht mehr gegen eine Behinderung an, sondern stellen vielmehr die Entfaltung der Möglichkeiten Ihres Kindes in Vordergrund. Damit wird sich Ihr Kind in seiner spezifischen Situation auch besser verstanden fühlen.- Seine Beziehungsfähigkeit wird damit gestärkt.